Feuer und Flamme

April 12, 2008 - Leave a Response

Bei Sonnenaufgang bot sich den überlebenden Dorfbewohnern ein Bild der Verwüstung. Nachdem das Feuer die ganze Nacht gewütet hatte, lag ein ganzes Quartier in Schutt und Asche. Der einzige Trost war, dass ausschliesslich Häuser älteren Baudatums ein Opfer der Flammen geworden waren. So mussten die Versicherungen nämlich nicht nur für die Kosten der längst überfälligen Renovationen aufkommen, sondern konnten für brandneue Anwesen zur Kasse gebeten werden.

         Trotzdem verstanden die Hinterwäldler nicht, wie so etwas schon wieder passieren konnte. Erst vor kurzem war doch eine mutmassliche Brandstifterin gefasst worden. Ausgerechnet die Frau des Kommandanten der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr war auf frischer Tat ertappt worden, noch mit dem brennenden Streichholz in der Hand. Die leeren Benzinkanister um sie herum hätten da als zusätzliches Beweismaterial ruhig in der Pfeife geraucht werden können. Dummerweise erschrak die Schöne in flagranti erwischt dermassen, dass der erst vor kurzem und trotz ausbleibendem Babyboom fertig gestellte Kindergarten dennoch niederbrannte.

         Sie gebarte sich als hilfloses Wesen, nach Mitleid und um Vergebung heischend, und gestand alles. Insgesamt gingen drei abgefackelte Ställe auf ihr Konto. Es war dabei durchaus in Ordnung, dass ihr die toten Pferde Leid taten, aber keinen auf der Polizeiwache interessierte sich im Mindestens dafür, weshalb sie sich an ihrem Mann rächen wollte. Schliesslich wusste jedes kleine Kind im Umkreis von zehn Meilen über dessen höchst seltsamen Vorlieben Bescheid, und das schon seit Jahren. Warum machte sie nun bloss jetzt plötzlich Aufheben deswegen? Oder war sie wirklich zu blöd gewesen, die Zeichen des Verrats früher zu erkennen? Die Ehefrau ist ja üblicherweise die Letzte, die es erfährt. Aber mit solcher Verspätung? Jedenfalls verstrickte sie sich immer mehr in abstruse Behauptungen, so dass man nicht umhin kam, sie zum eigenen Schutze und dem der Gesellschaft wegzusperren.

         Während sich die Bevölkerung also vermeintlich in Sicherheit wähnte, ging der Spuk nun von vorne los. Der Geruch von Schwefel und Tod sollte noch Tage in der Luft hängen. Es war, als lebten sie in der Hölle auf Erden. Denn zum ersten Mal gab es auch Menschenopfer zu beklagen. Für über die Hälfte der mickrigen vierzig Hochzeitsgäste, die gerade in der ohnehin baufälligen Scheune des geizigen Brautvaters das Tanzbein schwangen, kam jede Rettung zu spät. Die Feuerwehr hatte den ausgelösten Alarm für einen Streich übermütiger Jugendlicher gehalten und sich deshalb beim Ausrücken über Gebühr viel Zeit gelassen. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellte.

         Aber welcher Feuerteufel ritt sie denn nun schon wieder?

         Verdächtig wurde jeder und jede, dessen und deren Umfeld Risse in der glatten Oberfläche zeigte. Und da es die perfekte Idylle nirgendwo gibt, betraf es ausnahmslos jeden und jede. Denunzieren wurde alsbald der liebste Zeitvertreib aller.

         „Die Bürgin Eva schmeisst ihre Kippen immer brennend in den Garten“, gab Bürgin Marianne zu Protokoll, wollte aber anonym bleiben. Schliesslich macht Verpfeifen nur Spass, wenn man sicher sein kann, die Konsequenzen der eigenen Aussagen nicht verantworten zu müssen.

         „Der Meyer Ruedi“, flüsterte die Bürgin Eva und schaute dabei links und rechts, um sicher zu gehen, dass sie auch ja die Aufmerksamkeit aller Gesetzeshüter gewonnen hatte, „der schlägt seine Frau, glaube ich, jedenfalls höre ich manchmal diese dumpfen Geräusche, die…“ Sie bricht ab, schliesslich will die Spannung schon etwas aufgebaut sein, bevor sie zum Kern der Sache vorstösst. „Jedenfalls ist ihr kleiner Bub, der Kevin, ganz verstört, kein Wunder bei diesen zerrütteten Verhältnissen, und spielt ständig mit den Feuerzeugen seines Vaters.“

         Doch das spassige Gesellschaftsspiel als willkommene Abwechslung zu Monopoly und Samstagsjass sollte schon bald ein jähes Ende finden.

         Die gut besuchte Kirchenandacht offenbarte nämlich bereits eine Woche nach dem grossen Unglück des Rätsels Lösung, zumindest schien es so. Die bewegende Rede des Pfarrers, der sich nicht lumpen liess und sich für diesen Anlass eigens eine Predigt hatte einfallen lassen, die für einmal nicht aus dem Internet geklaut war, rührte nicht nur die Menge zu der einen oder anderen Krokodilsträne, sondern brachte den nicht wirklich wahren Übeltäter dazu, sich zu bekennen und Busse zu tun.

         Danach wollten sie es alle schon lange geahnt haben – Florian Heinimann, der Dorftrottel vom Dienst, hatte es nach einer Schreineranlehre nie recht zu etwas gebracht und auch nie eine Frau gehabt. So einer konnte ja nur Flausen im Kopf haben. Aber obschon es durchaus zutraf, dass keinerlei Intellekt seine reine Seele bisher befleckt hatte, taugte er schon genau deshalb nicht im Mindesten zum Pyromanen. Er war einfach nicht fähig, so etwas wie Groll oder Wut zu empfinden. Die Lust am Vernichten, am Töten war ihm gänzlich fremd. Florian war zwar dumm wie Stroh, steckte ebensolches aber keineswegs in Brand. Einmal wer sein, das war alles, was er wollte. Beachtet werden. Ohne dass über ihn gelacht wird.

         Leider hatte der Pöbel von moderner Psychologie nie etwas gehört, weshalb es geschah, dass der minderbemittelte Florian wie in einer mittelalterlichen Mär mit Schimpf und Schande durch die verkohlten Ruinen gejagt wurde. Sie warfen dabei mit Steinen nach ihm, und einer kam sogar auf die Idee, ihn seiner Untat gleich zu bestrafen und in Flammen aufgehen zu lassen.

         Der Mob verstummte und war doch entzückt, dass einer es wagte, ihrem Groll ein Gesicht zu geben. Sie waren froh, dass einer sich selbst zu ihrem Führer machte und ihnen dadurch die Verantwortung abnahm. Doch indem sie schwiegen, riefen sie laut. Zum Glück aber ist die Dummheit zwar allgegenwärtig, aber nicht immer die Schnellste. Das rettete dem armen Florian wohl das Leben, auch wenn er nicht ganz ungeschwärzt davon kam. Seine Kleider brannten wie Zunder, als ihn die ersten Fackeln trafen, Fackeln, die aus der anonymen Masse geschossen kamen. Als die aufgebrachte Menge von ihm abliess, da die Polizei widerwillig einschritt, hatte er das Bewusstsein längst verloren.

 

         „Asche zu Asche“, sagte der Pfaffe und streute dabei den Inhalt der Urne zu ihm hinunter in das offene Grab.

         „Ein Sanatorium der ganz besonderen Art“, flüsterte eine zweite Stimme, zu der das Gesicht fehlte, doch dieser Mensch war ganz nah. Florian blicke umher, doch alles, was er sah, waren Wände aus feuchter Erde. Die Würmer würden bald kommen. Es war sein Heim für die Ewigkeit, die jetzt begann, ausgehoben vom Totengräber, der in seinem grauen Anzug aussah wie ein Versicherungsvertreter und nun oben neben dem Pfaffen stand. Und während Florian sich fragte, ob er wohl vergessen hatte, eine Police gegen das Sterben abzuschliessen, fingen beide schallend an zu lachen und warfen weitere Urnen zu ihm hinab. Mit beiden Händen liessen sie die erstaunlich leichten und säkular aussehenden Gefässe fallen, sie machten sich nicht mehr die Mühe, diese zuerst der eingeäscherten Gebeine zu entledigen.

         „Asche zu Asche“, wiederholte der Pfaffe, immer und immer wieder.

         „Komm in unser Sanatorium der ganz besonderen Art“, kreischte der Totengräber im grauen Anzug mit weibischer Stimme. Und Florian wollte fliehen, unternahm aber nichts, da er spürte, dass jeder Versuch zwecklos war.

         Die Bilder und Worte vermischten sich in seinem Kopf zu einer Litanei, in seiner verworrenen Wahrung wiederholten sie sich schier endlos.

 

         Als er die Augen schliesslich aufschlug, war ihm sofort klar, wo er war. Wie er hierher gekommen war, wusste er allerdings nicht. Wie lange war schon hier? Sein Gesicht schmerzte höllisch. Es gab in seinem Zimmer keine Spiegel, er musste wohl schlimm aussehen. Er dachte an die Medikamente, die er sonst immer nehmen musste, und daran, ob das Personal hier wohl davon wusste.

         Die Krankenschwester erschien ihm wie ein Geschenk des Himmels. Was weiter nichts bedeutete, hatten alle weiblichen Wesen diese Wirkung auf ihn. Schwester Sandra war ihrerseits aber auch ob dieses neuen Patienten nicht beeindruckt und behandelte ihn mit der gleichen kühlen Professionalität wie alle anderen Patienten. Und auch nachdem er ihr wochenlang den Hof machte, so gut das ging in seinem beklagenswerten Zustand, gedachte sie keineswegs, sich unsterblich in ihn zu verlieben.

         Das Leben war wirklich hart. Anstatt mit der herben Schwester zu flirten, lag er nur träge herum und suchte nach einem Weg, seinen düsteren Gedanken zu entfliehen. Er war irgendwann soweit, dass er beinahe mit der Gesellschaft von einem beliebigen Menschen vorlieb genommen hätte. Doch die meisten anderen Patienten redeten weder mit ihm noch sonst jemandem. Immerhin führten ein paar alte Männer Selbstgespräche. Nur Nunzia, eine zierliche Frau um die Fünfzig, vertraute sich ihm an. Er erfuhr innert Stunden mehr als er je zu erfahren gefürchtet hatte, alles über die Zutaten ihrer beinahe geheimen Pastasause und einiges über die Potenzprobleme ihres Schwagers. Sie scheute dabei weder Banalität noch Intimität. Nichts schien ihr heilig.

         Er konnte sich nicht des Eindrucks verwehren, dass er als Priester und Psychiater gleichzeitig fungierte und ihr sozusagen die Lebensbeichte abnahm. Ausgerechnet er. Hier gestrandet war sie jedenfalls, weil ihr Mann versucht hatte, sie in Brand zu stecken. Beinahe wäre es ihm gelungen, doch obwohl auch Hexen nicht aus Asbest sind, wissen sie doch manchmal einen Feuerlöscher zu bedienen.

         „Aber warum wollte er das denn tun?“ fragte Florian.

         „Aus Langeweile. Was weiss ich“, meinte sie gleichmütig.    

         Am nächsten Morgen fanden sie ihre Leiche im Innenhof. Sie war mitten in der Nacht unbemerkt aufs Dach geklettert und hatte sich in den Tod gestürzt. Danach sah es zumindest aus. Eine polizeiliche Untersuchung gab es nicht. Wozu auch? Florian erinnerte sich, weshalb er im Allgemeinen darauf verzichtete, sich menschlichem Kontakt auszusetzen. Wir leben wie wir sterben, allein.

         Mittags ass er immer dasselbe. Gurkensalat in rauen Mengen. Und als Dessert   Vermicelles. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, pürierte Kastanien durch ein Lochsieb zu pressen, hätte das Resultat vielleicht nicht unbedingt „Würmchen“ nennen sollen. Die Italiener sagten zu dem Nachtisch immerhin „Monte-Bianco“, wenn auch aus ihm vollkommen schleierhaften Gründen. So sehr man ihm zuredete, er wollte keine anderen Menüs ausprobieren, auch wenn er ahnte, dass sich das wohl ungünstig auf seine interne Beurteilung auswirkte. „Nicht offen für Neues“, würde es darin bestimmt heissen. „Zwangsneurotiker“ nannten sie ihn sicher hinter seinem Rücken.

         Florian vermied stets jeglichen Blickkontakt. Den jungen Frauen schaute er zwar hinterher, aber nur, wenn er sicher sein konnte, dass sie es nicht bemerkten. Er wollte gerne noch eine Weile so tun, als ob Schwester Sandra die Richtige wäre. Und da hielt er es für unpassend, offen anderen Weibern nachzugeifern.

         Doch keine Regel ohne Ausnahme. Schliesslich war auch er nur ein Mann, was ja traditionellerweise so einiges an Dümmlichkeiten mit sich bringt. Einen verstohlenen Blick riskieren, das konnte ihm in Ehren niemand verwehren. Dass er eines Tages der Dorfschönheit über den Weg laufen sollte, damit hätte er zwar rechnen können, gegeben den Umständen, wie sie vor noch nicht allzu langer Zeit abgeführt worden war. Aber dennoch war er so überrascht, dass er einen Augenblick zu lange zögerte und sie, die ihn nicht zur Kenntnis genommen hatte, an ihm vorbei gegangen war.

         „Frau Feuerwehrkommandantin?“ rief er ihr nach.

         Sie drehte sich um, sah ihn kurz erstaunt an und fing schallend an zu lachen. Nie hatte sie jemand so genannt. Nicht einmal die Nachbarn, die sie bislang besuchten, um sie wie einen Freak zu begaffen, verstiegen sich in derart absurde Bezeichnungen. Diese zeigten sich zwar verständnisvoll und so genannt christlich, hatten ihr aber manches Mal Zettel hinterlassen mit so simplen wie klaren Botschaften wie „Dafür kommst du in die Hölle, Hexe“ oder „Stirb, Schlampe“. Aber sie konnte es ihnen nicht wirklich übel nehmen. Schliesslich war sie doch schuldig. Sie hegte lediglich den leisen Verdacht, dass ihr nun auch die verbrannten Leichen in den Kohlenkeller gekehrt wurden. Wider besseren Wissens übrigens, denn sie befand sich zum Zeitpunkt des grossen Brandes ja längst in dieser geschlossenen Anstalt.

         War etwa dieser schmächtige Knilch der wahre Übeltäter? Vorstellen konnte sie es sich allzu gut. So stellte sie ihn sich vor, den klassischen Amokläufer. Sie staunte, dass er die Schulzeit hinter sich gebracht hatte, ohne ein Blutbad anzurichten.

         Sie schwiegen, denn sie hatten sich nichts zu sagen. Worüber hätten sie auch sprechen sollen? Schliesslich hatte Florian noch nicht einmal wirklich ein Feuer gelegt, er hatte das nur behauptet. Doch sie würde ihm das kaum glauben. Eine solch ungeheuerliche Lüge machte keinen Sinn.  

         Sie gingen also ihrer Wege und nickten sich zukünftig zu, wenn sie sich auf dem Korridor sahen, nachts, beide barfuss auf dem kalten glatten Boden. Doch die Begegnungen kamen nur mehr selten vor.

         Irgendwann war die Zeit gekommen, die seelischen Wunden heilen zu lassen. Oder alte, vergessene Narben aufzureissen. Er wurde nicht gezwungen, an den nachmittäglichen Gruppensitzungen teilzunehmen, höchstens ein bisschen. Sie sassen im Kreis herum, auf unbequemen Stühlen, Tag für Tag, dem Durchbruch zum eigenen Inneren auf der Lauer. Doch Ausdauer wird weit weniger oft belohnt als allgemein angenommen.

         Der Gruppenleiter war ein hagerer junger Mensch, dessen Name Florian immer wieder vergass, obschon dieser ihn stets bei Sitzungsbeginn sagte. Dünner Bart, runde Hornbrille, das Antlitz des Ewigen Studenten. Er gab sich redlich Mühe, den ihm anvertrauten verwirrten Seelen den rechten Pfad zu weisen, doch schien er sich nicht sicher zu sein, welchen Weg er dabei beschreiten sollte. Väterliche Strenge, die weder seinem Alter noch seinem Naturell entsprach, ging dabei Hand in Hand mit pastoraler Milde, wofür ihm sowohl das Theologiestudium als auch der populistische Opiumsglaube fehlten. Von therapeutischem Geschick konnte schon gar nicht die Rede sein.

         „Was mache ich hier bloss?“ fragte er eines Nachmittages nicht zu Unrecht, wenn auch mehr der weinerlichen Rhetorik halber. Wie üblich bekam er keine Antwort. Denn zu seiner Verteidigung sei erwähnt, dass sein Patientenkreis nicht eben dabei half, zur eigenen Genesung beizutragen. Und selbst die Autoeloquenten verstummten in diesem saalähnlichen Raum, wo ein Räuspern endlos widerhallte.

         Hier waren sie alle des Lebens überdrüssig, und Florian war einer von ihnen. Zumindest hätte er nun einen Grund gehabt, sich nicht mehr einsam zu fühlen. Aber er wusste, dass er allein war, verdammt in einer Hölle, deren Namen er immer noch nicht kannte. Seinem unsonnigen Gemüt zum Trotz wollte er nicht zwingend den Rest seines irdischen Daseins, so minderwertig es ihm bisweilen auch vorkam, in den Mauern dieses höchst bizarren Instituts zubringen.

         Wer hatte ihn überhaupt eingewiesen? War er es selbst gewesen, in einem Anflug seltener Ratio? Um die Situation zu klären, würde es wohl mit dem Chef ein paar Worte unter vier Augen plaudern müssen. Am besten machte er sich gleich auf, dessen Büro zu suchen. Doch wie so oft in seinem Leben, verliess ihn der Mut schnell wieder. Florian machte sich vor, es läge daran, dass er ohne korrekte Anrede kein vernünftiges Gespräch führen konnte. Denn wie um Himmels Willen nannte man bloss den Leiter einer geschlossenen Anstalt? Herr Dr. Oberaufseher? Oder einfach Herr Soundso – wobei ihm auffiel, dass er noch nicht einmal den Nachnamen kannte. Zudem hatte der hohe Herr bestimmt Besseres zu tun, als sich um einen Patienten wie ihn zu kümmern.

         Er hatte ihn nur ein paar Mal gesehen, immer nur von weitem. Bisher war ihm das auch mehr als recht gewesen. Unauffällig zu sein war schon immer seine einfachste Übung gewesen. Er war der Unsichtbare, das Gespenst, durch das die Anderen hindurch sahen.

         Nun war es aber von Wichtigkeit, dass man ihm Beachtung schenkte. Leider jedoch hatte er nie gelernt, wie so etwas zu erreichen war. Schon bei Schwester Sandra war er letztlich gescheitert, auch wenn die Leidenschaft ihn bisweilen zu geringfügig höheren Leistungen anspornte als die Autorität.

         Erschwerend kam hinzu, dass der Chef, der offenbar nur zur Audienz lud, nie aber selber einer Einladung folgte, derzeit nur Augen für die Frau des Feuerwehrkommandanten hatte. Er war Feuer und Flamme für die Pyromanenprinzessin und alle wussten davon. Es war mehr als peinlich. Es war das Verderben auf den ersten Blick gewesen. Der Chefarzt, der wusste, dass sowohl die Patienten als auch das Personal ihn hinter seinem Rücken unschmeichelhaft „Oberguru“ nannten und diesen Titel dennoch mit einem gewissen Stolz trug, hatte sich exklusiv seiner Lieblingsinsassin angenommen. Dass sie nicht privat versichert war, irritierte nicht nur seine ohnehin argwöhnische Assistentin, die missbilligend die linke Augenbraue hochzog. Man munkelte längst, dass der Chef eine Affäre mit der Patientin unterhielt. Die ganze Angelegenheit war zwar ethisch nicht einwandfrei, aber was konnte gegen einen Halbteufel in Weiss schon unternommen werden?

         Leider hatte der Chef, dem es ganz recht war, dass alle glaubten, er wäre ein erfolgreicher Jäger, bei seiner Angebeteten bisher nicht landen können. Sie liess ihn keineswegs gewähren, wie er es gerne wollte, und das fing an, ihm zu stinken.

         Die Liebe macht uns dumm und die Lust gibt uns den Rest, was durchaus in einem Inferno enden kann. Wann genau in ihm der Gedanke heranreifte, seiner brennenden Sehnsucht und seinem unangenehmen Sodbrennen angemessen Ausdruck zu verleihen, würde er später nicht mehr sagen können. Es erschien ihm aber in dem Moment, wo sie zu ihm vor Zeugen Nein sagte, als die einzig logische Konsequenz.

         „Nicht einmal, wenn Sie der letzte Mensch auf der Welt wären“, hatte sie gesagt. Wenn sie wenigstens „Mann“ gesagt hätte. Und Schwester Sandra nicht hämisch grinsend daneben gestanden hätte.

         „Möchte wissen, was so lustig ist, Fräulein Unantastbar“, rügte er seine Mitarbeiterin. Schliesslich war er nach wie vor ihr Vorgesetzter und hatte sich Respekt zu verschaffen. Aber er wollte den Mund auch nicht zu voll nehmen. Ob er sich mit seiner Schelte bereits der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz schuldig machte?

         Dass Schwester Sandra wie ein Mann, trotzig und unreif, darauf reagieren würde, damit hätte er rechnen können. Wie weit sie dabei jedoch gehen würde, sollte sich bald zeigen. Sie beschloss nämlich, den armen Florian von seinem Leiden zu erlösen und ihm eine unvergessliche Nacht in ihrem kleinen, klinisch reinen Mansardenzimmer zu gewähren.

         Argwohn ist die Stiefschwester des verführten Jünglings, dennoch liess Florian sich nicht lange bitten. Eindeutige Angebote abzulehnen ist nicht nur blöd, sondern dazu noch unmännlich. Niemals zuvor war er mit einer Frau zusammen gewesen, doch darüber sprach er nicht. Sie schwiegen und er stellte sich erwartungsgemäss tölpelhaft an, war aber immerhin nicht grob. Als sie sich ganz nah zu ihm hinabbeugte, sah er es. Ihr Gesicht war von einem hektischen Beige. Auch sie versuchte, die Narben ihrer Vergangenheit zu verbergen. Es waren Brandwunden, genau wie seine.

         Er wusste nicht, wie ihm geschah, als sie sich um ihn schlang. Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er je zu hoffen gewagt, einmal im Leben wirklich das zu bekommen, was er wirklich wollte. Gut, dass er nicht ahnen konnte, dass sie ihn wie alle Männer zutiefst verachtete. Die bei Tageslicht besehen doch recht zweifelhafte Ehre einer Nacht mit ihr hatte er nur der Wut und dem Umstand, der einzige einigermassen annehmbare Kerl hier zu sein, zu verdanken. Schade nur, dass er wie so viele Menschen nicht zu unterscheiden wusste zwischen der Lust des Augenblicks und der Liebe, die im seltenen Idealfall ein Leben lang währt.

         Sie hatte noch Schlaf im Gesicht, als er ihr einen moralischen Antrag machte. Ihr war vor zehn Uhr und noch kaffee- und nikotinfrei ohnehin nicht allzu viel zuzumuten, aber derlei schwülstige Offenbarungen waren ihr zu keiner Tages- oder Nachtzeit willkommen. Schwester Sandra, ansonsten nie um eine schlagfertige Antwort verlegen, konnte nicht anders als ihm einen kräftigen Tritt zu verpassen. Ihr fehlten die Worte.

         Genau wie er war sie ein pathologischer Fall, soviel stand fest. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass die Krankenkasse für seinen Aufenthalt aufkam, während sie ein monatliches Gehalt bezog.

         Zumindest hatte er nun etwas, wovon er in der Gruppentherapie berichten konnte: Jedermann und –frau klingelten die Ohren, als er von seiner erotischen Eskapade berichtete, wobei er kein noch so staubiges Detail ausliess.

         Vielleicht hätte er sich ein geschickteres Pseudonym für Schwester Sandra ausdenken sollen als „Schwester Sandrine“. Zumindest war dem Ersatzheiland sogleich klar, um wen es sich hier drehte. Sex mit einem Patienten schien ihm, der seine fleischlichen Gelüste längst mit Kräutertee und Yogaübungen sublimierte, nicht nur unpassend, sondern geradezu obszön. Der Mensch ohne Eigenschaften versuchte also, den Peinlichkeiten Einhalt zu gebieten und brachte Florian mit dem Gespür eines selbstgefälligen Pädagogen zu Fall.

         „Wir haben nun genug gehört, Florian. Du sollst hier doch keine Lügen erzählen“, ermahnte er den Unbeugsamen. Aber das hätte er lieber nicht gesagt. Verletzter männlicher Stolz war noch selten die Basis für erfolgreiche Verhandlungen. Florian tat also einfach, als ob er nichts gehört hätte, und machte in seiner Erzählung da weiter, wo normalerweise der Jugendschutz einschritt. Unter anderen Umständen hätte er sich wohl etwas diskreter geäussert, aber jetzt wollte er beweisen, dass wirklich alles so passiert war, wie er behauptete. Der Therapeut fragte sich ob solch Ungeheuerlichkeiten irritiert, wie er den Patienten zum Schweigen bringen konnte – denn schliesslich war freie Meinungsäusserung trotz aller offiziellen Beteuerung weder erwünscht noch geduldet.

         So kam es schliesslich, dass Florian forthin Einzeltherapie verordnet bekam, obschon seine Krankenversicherung derlei edle Behandlung gar nicht deckte. Einen neuen Therapeuten – auch zum Leidenwesen desselbigen – bekam er leider nicht. Sie waren also beide frustriert, und das machte sie wütend.

         Florian musste nun täglich zum Verhör. Es kam ihm vor, als ob sie nach etwas suchen würden, von dem sie wussten, dass es nicht da sein konnte. Unglaube versetzt nun mal genau so wenig Berge wie der Aberglaube. Manchmal stellte Florian sich vor, dass die Anstalt von Ausserirdischen geleitet wurde. Wer konnte schon mit absoluter Sicherheit sagen, dass dem nicht so war? Schwester Sandra, der Therapeut und auch der Oberarzt hatten menschliche Gestalt angenommen, um so unbehelligt die menschliche Natur wissenschaftlich zu untersuchen, alles im Auftrag einer extraterrestrischen Spezies. Ob diese Forschungen dazu dienen mochten, in naher Zukunft die Herrschaft über den Planeten Erde zu ergreifen, oder ob nur unschuldige Neugier dahinter steckte, spielte dabei keine Rolle. Sicher war sich Florian nur, dass er diese Gedanken besser für sich behielt, war er nicht darauf aus, den Rest seines irdischen Daseins in der Gummizelle zu verbringen.

         Nicht nur deshalb war es kein Wunder, dass es mit der Therapie nicht so recht vorangehen wollte.

         „Wir müssen uns die weiteren Schritte gut überlegen“, sagte sein Gegenüber in jeder einzelnen Sitzung mindestens ein halbes Dutzend Mal, worauf Florian eines Tages erwiderte: „ Ich habe als kleines Kind zu laufen gelernt und hatte bis auf die Anfangsschwierigkeiten seither keine nennenswerte Vorkommnisse meine Schritte betreffend.“

         Der Therapeut, ein Zeitgenosse der besonders humorlosen Sorte, sah ihn verständnislos an. „Ich fühle, dass du unsere Arbeit hier nicht Ernst nimmst.“ Der Ton war derart falsch, jede Silbe abgenutzt und durch das Duzen noch um ein Vielfaches multipliziert, dass Florian nicht anders konnte als lauthals zu lachen.

         Das hatte Konsequenzen – wenn auch durchaus erwünschte. Wer hätte gedacht, dass er sich nur ordentlich daneben benehmen musste, um endlich die lange ersehnte Audienz beim Boss zu bekommen? Denn nun wurde Florian zum Chefarzt geschickt wie ein unartiger Junge zum Rektor.

         Dieser kochte zu solchen Gelegenheit grundsätzlich vor Wut. Seine Patienten hatten komatös und willig zu sein – Aufbegehren des individuellen Egos kam für ihn nicht in Frage. Das gab nur zusätzliche Arbeit. Und wenn er etwas mehr verabscheute als Arbeit, dann war das zusätzliche Arbeit!

         Dennoch las er die Akte des jungen Mannes mit wachsendem Interesse. Nachdem er feststellte, dass dieser aus demselben Ort stammte wie seine Gebieterin, verschwand seine Wut und machte seinem wirklich dämonischen Wesen Platz. Er wusste zwar noch nicht genau, wie er es anstellten würde, aber er wusste, dass ihm das Schicksal diesen jungen Irren geschickt hatte, um ihm dabei zu helfen, die Frau seiner Träume endlich für sich zu gewinnen.

         Mit mehr Angst als Vaterlandsliebe stand Florian nun zwar endlich vor dem Mann, von dem er sich Hilfe erhoffte, brachte aber keinen Ton heraus.

         „Junger Mann“, begann der Chefarzt, der sich bisweilen ganz gut gefiel in der Rolle des Übervaters. „Mir kommt zu Ohren, dass Sie den Eindruck erwecken könnten, nicht ganz zufrieden zu sein mit unserem Dienstleistungsangebot.“

         Florian schwieg, fürs Erste wohl nicht mal die schlechteste Taktik.

         Der Chefarzt war die schweigende Verrücktheit natürlich gewohnt und fuhr unbeirrt fort: „Es wäre schön, wenn wir einen Weg finden könnten, um alle Beteiligten glücklich und Sie gesund zu machen.“

         Darauf wusste Florian wirklich nichts zu sagen.

         „Aber, aber, junger Mann. Es ist doch alles halb so wild.“ Dabei waren seine Worte durchaus euphemistischer Natur. Denn in Wirklichkeit war alles noch viel schlimmer. Dass dieses Sanatorium eine Klapsmühle war, das hatte Florian längst gedämmert. Dass aber auch der Grossteil des Personals (mit Ausnahme der Küchenhilfe, die sich illegal im Land aufhielt und deshalb auf jede Art Arbeit angewiesen war) übergeschnappt war, das sollte er nie erfahren.

         Denn derweilen ergoss sich Benzin über das hässlich funktionale Mobiliar des Esssaals, im Keller wurde ein Zeitzünder gestellt und ein ordinäres Feuerzeug entzündete im dritten Stock nicht nur die Zigarette, sondern gleich noch den scheusslich gemusterten Vorhang.

         Der Feueralarm ging in jenem Augenblick los, als es für Florian an der Zeit gewesen wäre, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Es blieb ihm erspart, und während der Oberarzt vor Angst keine Luft mehr bekam, stand er auf, verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung von diesem und verliess den Raum ruhig, aber zügig in Richtung Notausgang. Hier und heute zu sterben hatte er nicht im Sinn. Er kannte das Emergency-Szenario auswendig, hatte die Anweisungen bestimmt tausendmal gelesen und war nun froh, dass solche Zwangsneurosen manchmal eben doch zu etwas gut waren.

         Nicht alle waren gleich gut vorbereitet. Schwester Sandra beispielsweise hatte nie an einer Übung teilgenommen, sie hatte es noch nicht einmal für nötig befunden, sich entschuldigen zu lassen. Dabei wäre ihn ihrem Fall eine gründliche Vorbereitung auf einen solchen Ernstfall durchaus angebracht gewesen, denn 1) war sie selber einst das Opfer eines Brandes gewesen und 2) half das daraus resultierende Trauma, das sie vor sich und der Welt zu verbergen suchte, nicht wirklich dabei, einen rationalen Umgang mit Feuer zu kultivieren.

         Sie war gerade dabei, die Pillenrationen für die Nachtschicht vorzubereiten, als die Sirenen losgingen und in den Gängen die Panik ausbrach. Sie blieb ruhig, schliesslich erforderte ihre Arbeit höchste Konzentration.

         „Könnt ihr bitte etwas leiser vor euch hin spinnen? Man hört ja die Stimmen im eigenen Kopf nicht mehr.“

         Doch als der Lärm konstant blieb, beschloss sie zu handeln. Ihr gingen diese ganzen Irren hier schon lange auf die Nerven. Jetzt konnten sie was erleben. Sie hatte die Tür jedoch noch nicht ganz geöffnet, da schlugen ihr bereits die Flammen entgegen.

         Verdammt, dachte sie, nun war sie also doch in der Hölle angekommen. Spontan entschied sie, dem Feuer zuvorzukommen, und schluckte ein paar Pillen hinunter. Sie weinte sich keine Träne nach. Rot, blau, grün und gelb – die bunten Pillen nahmen sie mit auf die Reise. Nach einer Handvoll besonders grell eingefärbter Tabletten kippte sie um. Dann ging es ganz schnell, einer Rauchvergiftung sollte sie nicht erliegen.

         Der Chef selbst hatte den ultimativen Liebesbeweis liefern wollen. Er war in die Heimat seiner grossen Liebe gereist, um ihr Werk zu beenden. Um das eher unscheinbare Dorf schien es ihm keineswegs schade, auch wenn er nichts allzu Hassenswertes finden konnte. Doch es stand ihm nicht zu, das Urteil seiner Göttin in Frage zu stellen. Wie einst Kaiser Nero legte er Feuer und überlegte sich sogar, dazu ein passendes Gedicht zu verfassen. Aber er wollte es dann doch nicht übertreiben und seine bescheidene musische Begabung unnötig zur Schau zu stellen.

         Wer konnte ahnen, dass die im Umgang mit Feuer bisher eher erfolglosen Hinterwäldler doch einen Wasserschlauch zu bedienen wussten?

         Und nun auch das noch: Den Kerker seiner Geliebten wollte er zerstören, in Rauch auflösen sollte sich die Anstalt. Leider hatte er den Zeitzünder vergessen, als er in einem Augenblick der seltenen Menschenliebe von dieser Idee wieder abkam und erst einmal den Jüngling für seine Zwecke benutzen wollte.

         Er hatte also versagt. Sie würde ihn auslachen, ihn hassen. Ihn verachten. Niemals lieben. Sie würde niemals die seinige sein. Niemals ihm gehören. Er blieb in seinem vom Grössenwahn eingerichteten Büro sitzen, nun war er ganz ruhig und wartete auf das Ende.

         Die Frau des Feuerwehrkommandanten indessen sollte leben, wenn auch nicht sicher war, dass dies im Sinne ihrer selbst geschah. Sie hatte das Gebäude zumindest aus eigenem Antrieb rechtzeitig verlassen. Zu diesem Zeitpunkt hielt sie sich für allein verantwortlich – denn als sie in ihrem Zimmer verbotenerweise geraucht und dabei dieses wirklich geschmacklose Vorhangmuster betrachtet hatte, war ihr spontan die Idee gekommen, ein letztes Mal ihren Ehemann herbeizurufen. Und dabei gleichzeitig den Chefarzt zu quälen, indem sie sein Werk – wofür sie das Sanatorium irrtümlicherweise hielt – in Schutt und Asche legte.

         Nun irrte sie umher im nahe gelegenen Wald, in ihrem weissen Nachthemd sah sie aus wie eine Fee. Mit Fistelstimme rief sie nach ihrem Ehemann.

         Da begegnete sie dem toten Herrn im grauen Anzug.

         „Bist du es wirklich?“ rief sie, denn sie erkannte ihren Mann sofort. Er antwortete nicht, aber Tote und Geister taten so etwas ohnehin nur sehr selten. Er schaute sie nur an, nahm dann einen letzten Zug von seiner Zigarette, die er danach achtlos fortwarf, und ging an ihr vorbei in Richtung Feuersbrunst.

         Sie wollte ihm noch hinterher rufen, dass sie ihm alles vergebe, seine ganzen bizarren, unaussprechlichen Vorlieben, wenn er sie hier weg hole, weg von diesem Lüstling, der sie bei jeder Gelegenheit mit seinen Blicken auszog und ihr bestimmt bald an die Wäsche gehen würde. Ihr war jetzt klar, dass sie mit einem sehnsuchtslosen Spiesser, der keinen Sex, aber seine Ruhe wollte, weitaus besser dran war.

         Doch der tote Mann im grauen Anzug war schon verschwunden in den Rauchschwaden des Sanatoriums, wo er gerade noch mit dem Benzinkanister für die baldige Verschönerung dieses Etablissements gesorgt hatte.

         Unter den Schaulustigen, die sich hinter der Absperrung der aufgebotenen Feuerwehr versammelt hatten, war auch Florian. Er wollte noch einen letzten Augenblick verweilen, nachdem er gesehen hatte, wie sie die Leiche von Schwester Sandra weggebracht hatten. Im Flammenmeer der zerbrochenen Träume war auch unerwiderte Liebe nur Schall und Rauch.  

         Nicht alle Insassen konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Einige waren schlicht zu langsam, nicht wenigen war es wohl recht. Ihr Leiden hatte nun ein Ende. Der Himmel war erfüllt von Rauch und Asche.

         „Staub zu Staub“, flüsterte der Pfaffe, der herbeigeeilt war, weil das so von ihm erwartet wurde. Lieber wäre er daheim geblieben bei seiner Haushälterin, die er niemals heiraten durfte. Doch wer scherte sich schon um seine schmutzigen kleinen Geheimnisse, die keine waren? Neben ihm stand der tote Mann im grauen Anzug. Der Pfaffe erschauerte. Nie in ihrem Leben hatte sie in so leere Augen gesehen.

         Das Sanatorium brannte wie Zunder, bis auf die Grundmauern sollte nichts übrig bleiben. Dass gleich drei Menschen mit unleugbar pyromanischen Tendenzen  Feuer gelegt hatten, würde spätere Untersuchungen erheblich erschweren und den Versicherungen noch einige Kopfschmerzen bereiten. Aber dafür war er ja zuständig.

         Denn der tote Herr im grauen Anzug war natürlich nicht wirklich tot. Es schien nur so, weil er sich seines Berufes wegen eine sehr neutrale, leblose Aura zugelegt hatte. Er musste seinen Verpflichtungen bar jeglicher Emotion nachkommen, und unsichtbar zu sein für die anderen Menschen kam durchaus auch als Segen, wenn es darum ging, einen besonders heiklen Fall zu behandeln.

         Er war Versicherungsvertreter, spezialisiert auf Brände, und besonders stolz darauf, so manches Mal vor der Feuerwehr zur Stelle zu sein. Beinahe hätte er gelächelt beim Anblick der Apokalypse. Nicht, dass die Todesschreie der zum Scheiterhaufen Verurteilten ihn berührt hätten oder die zu erwartende Schadenssumme ihm Kummer bereitete. Er stand nur da und beobachtete, was um ihn herum geschah. So sehr er sich das auch manchmal wünschte, er konnte nicht teilhaben.

         Die Welt stand lichterloh in Flammen, doch sein Herz war kalt wie Eis.

 

 

© 2007 Alain Fahrer